Titel
Russischer Nationalismus. Die russische Idee im 19. und 20. Jahrhundert. Darstellung und Texte


Autor(en)
Golczewski, Frank; Pickhan, Gertrud
Erschienen
Göttingen 1998: Vandenhoeck & Ruprecht
Anzahl Seiten
308 S.
Preis
€ 7,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Alexander Martin, Oglethorpe University

Bis vor einem Jahrzehnt erschien der Grundriss der neueren russischen Geschichte einfach: es gab die Zeit vor 1917 und die danach. Viele Aspekte der vorrevolutionaeren Gesellschaft haetten die Zaesur von 1917 ueberhaupt nicht ueberlebt, hiess es, und die, die ueberlebt hatten, seien durch die Oktoberrevolution und ihre Folgen bis zur Unkenntlichkeit veraendert worden. Konservativismus und russischer Nationalismus gehoerten zu den Fossilien, weshalb sich vergleichsweise wenige Historiker mit ihnen befassten. Mit dem Zusammenbruch des Sowjetsystems ist diese These in Frage gestellt worden, da die jahrzehntelang totgeglaubte russische Rechte seit 1985/1991 mit beeindruckender Kraft wiederauferstanden ist. Die Frage nach ihren Urspruengen, und nach ihren Kontinuitaeten ueber die Zaesuren von 1917 und 1991 hinweg, gehoert deshalb zu den wichtigen Themen unserer Jahre.

Das vorliegende Buch von Golczewski und Pickhan befasst sich mit einem der zentralen Aspekte der russischen Rechten - dem Nationalismus. Es besteht aus zwei Teilen: der erste, etwas kuerzere Teil gibt einen Ueberblick ueber die Geschichte des Nationalismus in Russland; im zweiten Teil folgen 39 hochinteressante, in die deutsche Sprache uebersetzte russische Quellentexte, die chronologisch von Nikolaj Karamzin (1811) bis Vladimir Shirinovskij (1994) reichen und von russischen Denkern und Politikern verfasst sind, die im ersten Teil des Buches bereits besprochen worden sind. Das Buch beschaftigt sich in erster Linie mit der Entstehung und Entwicklung nationalistischer Ideen, waehrend andere Gesichtspunkte - etwa der soziale Hintergrund des Nationalismus oder seine Beziehung zur Tagespolitik - nur am Rande eroertert werden. Dabei geht es den Verfassern darum, zu zeigen, dass der russische Nationalismus vom 19. Jahrhundert bis heute geistesgeschichtlich eine Einheit bildet und sein Wiederaufleben in den 1980er Jahren eigentlich niemanden haette ueberraschen sollen. Sie sind auch bemueht, zu beweisen, dass die Geschichte des russischen Nationalismus insgesamt der anderer europaeischer Nationalismen aehnelt und dass der Nationalismus nur mit grosser Vorsicht in das althergebrachte ideologische links-rechts Schema einzuordnen ist. Die Verwendung von Begriffen wie "reaktionaer" und "faschistisch" lehnen sie ebenfalls als zu polemisch und unklar ab.

Die Geschichte des russischen Nationalismus wird in mehrere Phaseneingeteilt.

Zuerst (im Kapitel "Die Ausbildung der Ideenwelt des russischen Nationalismus" sowie in 19 Quellentexten) befassen sich Golczewski und Pickhan mit der Zeit bis zur Thronbesteigung Alexanders III. (1881), mit der der konservative Nationalismus zur Grundlage der Staatspolitik erhoben wurde. Eingehend besprochen wird die geistige Entwicklung der 1830er-50er Jahre, als sich die wesentlichen Richtungen des russischen Nationalismus entwickelten, namentlich der staatsbezogene "offizielle Nationalismus" des einflussreichen Bildungsministers S.S. Uvarov, der europaorientierte Fortschrittsglaube der "Westler", und die Vorstellungen der "Slavophilen" vom frommen, zarentreuen, antiindividualistischen Nationalcharakter des russischen Volkes. Dabei wird betont, dass die Gegensaetze "Westler"/"Slavophile" und "Slavophile"/"offizieller Nationalismus" nur bedingt anwendbar sind und dass die Uvarov'sche Ideologie auch nicht unbedingt als reaktionaer zu betrachten ist. Es wird auf die Unterschiede zwischen den von verschiedenen Historikern vertretenen Interpretationen hingewiesen, und wuenschenswerte neue Forschungsthemen werden angedeutet. Die Verfasser verschaffen somit auch Uneingeweihten einen Ueberblick ueber den Stand der Forschung.

Es ist allerdings bedauerlich, dass der Fruehgeschichte des russischen Nationalismus vergleichsweise wenig Aufmerksamkeit geschenkt wird. Dabei kommt gerade der Zeit der Napoleonischen Kriege, die von Golczewski und Pickhan nur im Voruebergehen besprochen wird, eine Schluesselrolle zu. Viele der typischen Merkmale des russischen Konservativismus entstanden bereits in dieser Zeit, als sich der russische Adel gleichzeitig von Napoleon und von der zarischen Reformpolitik bedroht fuehlte: der romantische Nationalismus, der europaeische Kultureinfluesse ablehnte und sich eher am Bauerntum orientierte; die proto-slavophile Idealisierung der angeblich einzigartigen seelischen Eigenschaften des russischen Volkes; die zunehmende Kritik an den Reformen Peters des Grossen; der Glaube, das orthodoxe Russland habe die goettliche Sendung, dem dekadenten Europa das Heil zu bringen; die Identifizierung des russischen "Sonderwegs" mit dem autokratischen Regierungssystem; usw. Diese Ideen (zu deren Urhebern u.a. A.S. Schischkov, N.M. Karamzin, S.N. Glinka, F.V. Rostoptschin, A.N. Golicyn, und A.S Sturdza gehoerten) entstanden im Zusammenhang mit den oeffentlichen bzw. regierungsinternen Diskussionen um die Franzoesische Revolution, die Plaene Alexanders I. zur Umgestaltung von Staat und Gesellschaft, die Entwicklung der russischen Schriftsprache und Literatur, Russlands Politik gegenueber Napoleon, die Rolle des Volkes im "Vaterlaendischen Krieg" 1812, und die innen- und aussenpolitischen Aspekte der Heiligen Allianz in den Jahren 1814-25. Von diesen Diskussionen fuehrt ein direkter Weg zu den Slavophilen, den Westlern, und dem "offiziellen Nationalismus" der 1830er-1850er Jahre. Golczewski und Pickhan bemerken zu Recht, dass der russische Nationalismus in seiner Anfangsphase (bis ca. 1825) sowohl konservative als auch revolutionaere Elemente enthielt, und dass die Verbindung von sozialkritischen und staatserhaltenden Ideen eines seiner wesentlichen Charakteristiken wurde. Der Ursprung dieser Zweigleisigkeit liegt gerade in den 30 Jahren nach 1789, als die russische Oberschicht versuchte, das Erbe des aufgeklaerten Absolutismus mit dem romantischen Nationalismus und der Ablehnung der Franzoesischen Revolution in Einklang zu bringen.

Golczewski und Pickhan sehen den Krimkrieg als eine entscheidende Wende, nach dem sich, analog zu anderen Laendern Europas, der "offizielle Nationalismus" der Obrigkeiten und der romantische, slavophile Nationalismus der Intelligencija mehr und mehr verbanden. Dostoevskij und N.Ja. Danilevskij spielten eine besonders wichtige Rolle bei der Formulierung dieser Vorstellungen, denen zufolge der russische Staat seine Macht dazu verwenden sollte, innenpolitisch eine dem russischen Nationalgeist entsprechende gesellschaftliche Entwicklung zu foerdern und aussenpolitisch Russlands Macht moeglichst zu steigern und zur Verteidigung "slavischer" Interessen einzusetzen.

Die zweite Phase (das Kapitel "Russischer Nationalismus als Staatsidee" und 7 Quellentexte) ist die Zeit 1881-1917, als die Ideen des Nationalismus in grossem Umfang in die russische Politik eindrangen. Dies geschah in zwei Etappen. Zunaechst wurde ein obrigkeitsstaatlicher Nationalismus als staatliche Ideologie verkuendet und in verschiedenen Bereichen der Regierungspolitik durchgesetzt. Danach, mit der Ausweitung des politischen Pluralismus nach der Revolution von 1905, rueckte der Nationalismus in den Mittelpunkt heftiger parteipolitischer Kontroversen. Wie auch sonstwo in Europa zur gleichen Zeit, wurde er in Russland zur Grundlage diametral entgegengesetzter Ideologien. Das Buch identifiziert insbesondere:

-einen konstitutionellen Nationalismus (liberal in der Innen-, auftrumpfend und Entente-freundlich in der Aussenpolitik);

-einen dynastischen Nationalismus (monarchistisch und antisemitisch in inneren, zurueckhaltend und tendenziell prodeutsch in auswaertigen Fragen);

-einen kurzlebigen Neoslavismus (der eine demokratische Gemeinschaft slavischer Voelker, frei von russischen Vormachtsanspruechen, forderte);

-und einen "voelkischen" Nationalismus (antisemitisch, feindselig gegenueber Adel und Kapital, mit sozialrevolutionaerer Tendenz).

In diesem Abschnit kommen wesentliche Thesen des Buches besonders zur Geltung. Die Aehnlichkeiten mit der heutigen ideologischen Konstellation sind augenscheinlich, ebenso die Parallelen mit anderen europaeischen Laendern (z.B. Deutschland) vor dem 1. Weltkrieg. Gleichfalls wird am Beispiel des "voelkischen" Nationalismus deutlich, wie nah der radikale, antisemitische Nationalismus haeufig dem linksrevolutionaeren Ende des politischen Spektrums stand; dadurch wirkt auch das heutige "rot-braune" Buendnis in Russland weniger ueberraschend oder paradox.

Die dritte Phase (das Kapitel "Russischer Nationalismus zwischen Sowjetstaat und Emigration" und 9 Quellentexte) entspricht der Zeit des Sowjetregimes. Auch hier werden die langfristigen Kontinuitaeten der russischen Entwicklung hervorgehoben. Sowohl in der UdSSR als auch in der Emigration verfestigte sich von Anfang an die Vorstellung, Russland muesse autoritaer und sozialpolitisch "links" regiert werden, dass Russland den Kern eines "Eurasien" umfassenden Staats- und Kulturgebildes sei, und dass das russische Volk dank seiner nationalen Eigentuemlichkeiten zu dieser Mission besonders befaehigt sei. Im "Sowjetpatriotismus" bezog sich der Nationalismus zwar auf das "sozialistische Vaterland", doch wurde dieses zunehmend als Nachfolger des alten Zarenreiches verstanden, waehrend die nichtrussischen Landesteile zum Status kolonialer Besitzungen herabgestuft wurden. Der Etatismus der Zaren, das sozialrevolutionaere Engagement der Intelligencija, und eine "slavophile" Interpretation des russischen Nationalcharakters gingen einher mit einer grundsaetzlichen Ablehnung von Liberalismus, Individualismus, Pluralismus, und Kapitalismus. Golczewski und Pickhan sehen diese Elemente in der Sowjetunion und der Emigration, bei Stalinisten, nicht-stalinistischen Kommunisten, sowjetischen "Dissidenten", "Nationalsozialisten" in der Emigration, und anderen mehr. Hieran wird deutlich, dass es ein zwar vielschichtiges, doch durchaus zusammenhaengendes russisches nationalistisches Weltbild gab und gibt, das Revolutionen und Weltkriege weitgehend unbeschadet ueberlebt hat und von dem selbst das kommunistische Regime tief beeinflusst worden ist.

Die vierte Phase (das Kapitel "Der Nationalismus bei den "Dissidenten" und im postsowjetischen Russland" und 4 Quellentexte) beginnt bezeichnenderweise mit der "Dissidenten"-Bewegung der Nach-Chruschtschew-Zeit, da hier der Anfang der heutigen nationalistischen Bewegung liegt. Es wird dabei unterschieden zwischen autoritaer-konservativen Nationalisten (z.B. Aleksandr Solshenicyn, den die Verfasser eher kritisch bewerten); Neo-Stalinisten und Rechtsextremisten (verbunden durch die beiden gemeinsame Abneigung gegen den Liberalismus, und den Antisemitismus); und die Kuenstlerbewegung der "Dorfprosaiker" (die der dekadenten Moderne eine praemoderne, quasi-slavophile russische Dorfidylle entgegenhaelt). Golczewski und Pickhan konstatieren, dass der neu-alte Nationalismus in der heutigen russischen Politik eine entscheidende Rolle spielt, wobei ein imperialer "offizieller Nationalismus" der Regierung und der radikale Nationalismus der Antisemiten groesseren Einfluss zu haben scheinen als die neoslavophile Vorstellung von einer Rueckkehr zu den geistigen und sittlichen Werten des alten Russland. Die Verfasser werten den heutigen Nationalismus vor allem als Versuch, die Rueckschlaege, die das russische Volk im vergangenen Jahrzehnt auf fast allen Gebieten erlitten hat, psychologisch zu kompensieren. "Wenn diese Interpretation zutreffen sollte", folgern sie, "eroeffnet sie keine guten Aussichten" (S. 123), da sich Russlands Rueckstandigkeit gegenueber Westeuropa, und mit ihr die nationalistische Stimmung, in absehbarer Zukunft wohl kaum verringern duerfte.

Golczewski und Pickhan haben mit diesem Buch einen wertvollen Beitrag zur wissenschaftlichen Diskussion ueber den Nationalismus, die Geschichte Russlands, und die Geistesgeschichte Europas im 19. und 20. Jahrhundert geleistet. Dem Spezialisten liefert das Buch neue Denkanstoesse, und fuer Studierende findet sich hier eine Fuelle neuer Primaerquellen und eine klare, interessante Einfuehrung in ein wichtiges Thema der neueren Geschichte.

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